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Marie Barsch-Muthreich:
»Freund unter Freunden.«
Geschrieben
an Paul Barsch.
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Beethoven's neunte Sinfonie und der Kölner Dom
aus: National–Zeitung Jg. 4, Nr. 560 v. 29.11.1851 (Abend–Ausgabe), gez. –t.


D

ie Musik hat ihre mögliche Kraft, von der schon die ältesten Geschichten erzählen, bis auf den heutigen Tag bewahrt. Wie einst vor vielen tausend JahreTag bewahrt. Wie einst vor vielen tausend Jahren Amphions Leier die Ringmauer Thebens zusammenfügte, so ist je jetzt wieder die Tonkunst, welche das Dach über den Kölner Dom wölben hilft. Das schon im Juni dieses Jahres verheißene und auf den 29. November festgesetzte Konzert ist seit Jahren das bedeutendste Ereigniß in unserm sonst so mannigfach bewegten musikalischen Leben, theils wegen des hohen nationalen Zweckes, dem der Ertrag bestimmt wird, theils wegen der großartigen Vereinigung der leider so zersplitterten musikalischen Kräfte der Hauptstadt, endlich weil hier ein Werk zur Aufführung kommt, das alle übrigen Werke der Tonkunst eben so überragt, wie der Riesenbau in Köln alle übrigen Dome und Kirchen unseres Vaterlandes. Beethoven's neunte Sinfonie ist eines jener Wunder, die der Geist von Zeit zu Zeit durch seine Auserwählten vollbringt und in denen er die ganze Fülle und Majestät seines Wesens den Menschen offenbart, eines jener ewigen Denkmale, durch die er seine höchsten Siege bezeichnet und eine neue Eroberung für alle Zukunft sichert. Der große Bau, zu dem Haydn den Grund gelegt und an dem Mozart und Beethoven rüstig weiter gearbeitet, hatte allmälig so ungeheure Dimensionen angenommen, daß menschliche Kraft nicht ausreichend schien, ihn zu überdecken, und er unvollendet dastand, wie der Kölner Dom, der bis jetzt als allein würdiges Dach das blaue Himmelsgewölbe über sich hat. Da schuf Beethoven sein letztes Instrumentalwerk, und die Aufgabe war vollbracht. Noch mancher Komponist mag zu seinem Ruhm und zur Freude der Hörer Sinfonien schreiben, aber die Kunst wird dadurch keinen Schritt mehr vorwärts thun, denn das Ideal der ganzen Gattung ist bereits verwirklicht. So ist die neunte Sinfonie der Scheidegruß, mit dem der schaffende Geist der Instrumentalmusik von der Welt und zugleich der Meister von seinem Orchester Abschied nahm, dem Reiche, in welchem er als unbeschränkter König gewaltet. Obgleich sie mehr als drei Jahre vor Beethovens Tode entstand, so komponirte er blos noch Quartette und Stücke für das Klavier, nicht etwa, weil nach dem Bericht seiner Biographen ein russischer Fürst ihn durch allerhand Bestellungen von der Ausführung seiner zehnten Sinfonie abhielt, sondern weil er fühlte, daß in jenem Werk Alles gethan, was menschliche Kraft kann, daß in ihm seine ganze Lebensanschauung niedergelegt, das Ziel seines Strebens erreicht war.
Die neunte Sinfonie ist das Evangelium der Zukunft, Beethovens musikalisches Testament; es ist wohl endlich Zeit, daß wir die Erbschaft antreten. Bis jetzt ist dieses Werk dem Dilettanten so gut wie unbekannt und selbst den meisten Musikern von Fach eine unbegriffene Apokalypse. Gewöhnlich gilt sie für die Ausgeburt eines kranken, weltmüden Sonderlings, der in seiner Vereinsamung auf allerlei abentheuerliche Gedanken gerathen. Er hätte diese eigensinnige, alles Menschenverstandes baare Musik blos komponirt, um dem Orchester durch die Zumuthung unüberwindlicher Aufgaben einen Schabernack zu spielen und die Zuhörer zu mystificieren. Die Meisten brechen in ihrer Unfehlbarkeit ohne Weiteres den Stab über den Komponisten, und Wenige lassen sich zu einem "Schuldig mit mildernden Umständen" herbei. Diese geben doch zu, daß´in dem Wust von Tönen ein paar schöne Melodieen sich verirrten, etwa "wie schöne Mädchen, die in einem verwahrlosten Park lustwandeln." Man mochte sich in dem bequemen Genuß der eigenen Mittelmäßigkeit nicht stören lassen und ist deshalb über die neunte Sinfonie zur Tagesordnung übergegangen. Unter den Schriften, die sich mit dem Werke näher beschäftigen, ist eine Abhandlung von Professor Marx bei weitem das Bedeutendste. Richard Wagners Arbeit über den Gegensand kenne ich nicht. Wenn ich es hier unternehme, den Gedankeninhalt einer Tonschöpfung darzulegen, Töne gleichsam in Worte zu übersetzen, so wird man am Schluß der Entwickelung wenigstens zugeben, daß die neunte Sinfonie zu solcher Betrachtungsweise herausfordert, wenn auch die bestimmte hier versuchte Erklärung unrichtig erscheinen sollte. Im Wesentlichen knüpfe ich hierbei an einen, nach der letzten Aufführung geschriebenen Aufsatz an.
Um sich der Bedeutung des letzten Orchesterwerkes bewußt zu werden, muß man es im Zusammenhange auffassen mit den übrigen Sinfonien Beethovens und mit denen seiner Vorgänger, da es sich um das Resultat und höchstes Ziel dieser ganzen Entwickelung ergiebt. In der Instrumentalmusik überhaupt hat der Geist noch nicht seinen letzten Ausdruck gefunden, sondern erscheint verschleiert als Ahnung und dunkles Gefühl. Sie ist deshalb ihrem Wesen nach romantisch, weil der Form die Energie fehlt, den Inhalt zur vollendeten Darstellung zu bringen. Ihre Schöpfungen gleichen den räthselhaften Kunstgebilden der Inder und Aegypter, jenen phantastischen Blumengewinden und Thiergestalten, in denen der Geist darnach ringt, sein Wesen zu offenbaren, und doch sich nicht der Traumwelt, die ihn umstrickt, entreißen kann. Sehnsucht ist so der Grundzug aller Instrumentalmusik, sie will erreichen, was ihr ewig unerreichbar ist, möchte einen Gegenstand erfassen, den sie nur in weiten Kreisen umschweben kann, etwas aussprechen, wofür sie nur Andeutungen und Anklänge hat. Sie löst Räthsel, indem sie neue Räthsel aufgiebt, ist eine hieroglyphische Bilderschrift des Geistes. Der Sinn verbirgt sich hier in einem Symbol und scheint oft ganz in demselben untergegangen. Anders verhält es sich in der Vokalmusik, in der der Text den Mangel ergänzt und das ausspricht, was Instrumente nur andeuten können. Dichter und Musiker verbinden sich hier zu der Darstellung eines Gegenstandes, indem Jeder aus seiner Kunst herzubringt, was dem Andern noch fehlt: Dieser sinnliche Wärme- und unendliche Gefühlsreichthum, Jener die Klarkeit des Gedankens. In einem Gesangswerk ist so die Musik nur das Gefäß oder die Hülle für einen anderweitig gegebenen und bestimmten Inhalt; es ist ein Räthsel, dem unmittelbar die Auflösung folgt, ein Bild mit der Unterschrift. Das Gesetz des Fortschritts, welches der ganzen historischen Entwickelung der Instrumental–Musik zu Grunde liegt, besteht nun darin, daß sie einerseits ihr Gebiet immer weiter auszudehnen, Gegenstände darzustellen sucht, an die sich sonst nur die Tonkunst in Verbindung mit dem Worte wagte, und daß sie andererseits ihrem Inhalt einen immer bestimmteren, prägnanteren Ausdruck zu verleihen sucht. Es wird dies durch die Geschichte bestätigt. Wie jede andere Kunst, so wurde auch die Instrumentalmusik im Schooße der Kirche aufgenährt und groß gezogen. Als ihre älteren Schwestern schon längst ihre Heimath verlassen hatten und draußen in der Welt zu Ehren und Ansehen gekommen waren und alles Geschaffene beherrschten, lernte das jüngste Kind der Musen glauben und beten, und stammelte mit noch unsicherer Zunge Loblieder auf Gott. Unsere Kunst trat zuerst auf als Orgelspiel und entwickelte sich nach dieser Seite hin in Sebastian Bach zur höchsten Vollendung. Als sie im Dienste der Kirche in Gottesfurcht und Reinheit aufgewachsen und genug erstarkt war, trat sie hinaus in das Gewühl des Lebens, in den Kampf der Leidenschaften, und sie, die bisher nur im Buche des Himmels gelesen, fing an, die Geheimnisse der Natur und des menschlichen Herzens zu verkündigen.
Der Erste, der sie dabei leitete und sie vor Irrwegen bewahrte, war Josef Haydn. Voll Entzücken staunte sie über die Schönheit der Erde und die Wunder der Schöpfung, eilte durch Flur und Wald, blieb bei jeder Blume stehen, lief jedem Schmetterlinge nach und ruhte an den klaren Quellen. Sie hatte von der Unschuld und Sanftmuth, die sie aus der Kirche mitgenommen, noch nichts verloren und vergaß nie, zur rechten Zeit ihr Gebet zu sprechen. Der Inhalt dieser Musik stellt sich demnach ganz allgemein als naive, unschuldsvoll in Gott zufriedene Seligkeit dar. Alle diese Sinfonien sind kindliche Idyllen und als solche freilich vollendete Muster. Haydn wählt sich zwar schon hin und wieder einen bestimmten Gegenstand, z. B. die Schilderung der Gefühle beim Herannahen des Frühlings, eines ländlichen Festes, des Abschieds und des Wiedersehens u. s. w.; das sind doch aber nur Versuche, die ihren Ursprung einer zufälligen Anregung verdanken. Viel weiter als Haydn, der Form und dem Inhalt nach, geht Mozart, in dessen Orchesterwerken die ganze Dialektik der Leidenschaft sich vollzieht. Die Unschuld des Herzens, der Frieden des Paradieses ist hier verloren, und dafür die Erde mit ihren Freuden und ihrer Arbeit gewonnen. Dieser Fortschritt zeigt sich sowohl in seinen Ouvertüren (so sind schon z. B. die zu Figaro's Hochzeit und zum Don Juan wahre Prologe zum Lustspiel und zum Trauerspiel der Liebe) wie in seinen größeren Sinfonien, die in die verborgensten Tiefen des menschlichen Herzens dringen. Beethoven endlich verlieh der Instrumentalmusik ihren universalen Charakter und in allen seinen größeren Sinfonien, der dritten, fünften und siebenten entrollt sich ein ganzes Leben mit allen seinen Hoffnungen, Wünschen, Siegen und Niederlagen. Sie haben Alle die geistige Schöpfungsgeschichte des Menschen zum Gegenstand, jenen Kampf, den auch jeder Einzelne durchkämpfen muß, um durch den Zweifel zu dem Glauben und zur Versöhnung zu gelangen. Am großartigsten ist dieser Vorwurf in der neunten Sinfonie aufgefaßt, die deshalb die Vollendung und Wahrheit, aber zugleich auch die Vernichtung der Sinfonie überhaupt ist. Der Meister nahm hier noch einmal die Form, in die er schon acht der edelsten Gestalten geschaffen, zur Hand, um zum letzten Male das Bild des Menschen abzudrücken und sie dann zu zerbrechen. Noch einmal schwingt er das Glas, aus dem er manches Hoch auf Gott, Liebe und Freiheit gebracht, um es in Scherben zu werfen. Der Gedanke war zu mächtig geworden für die enge Hülle der Sinfonie, er befreit sich deshalb von den Banden der Instrumentalmusik und erhebt sich zum Gesange, zur Klarheit des Wortes, das allein fähig ist, seinem Inhalt den Ausdruck der Vollendung zu leihen.
Der erste Satz der neunten Sinfonie schildert diejenige Entwickelungsstufe, in welcher der Mensch, der nach der höhern Erkenntniß trachtet, sich von allem Gegebenen losgerissen hat und sich vergeblich müht, zur innern Befriedigung und Harmonie zu gelangen. Dieser Satz hat mit dem Mythus der Titanen, die den Thron der Götter stürmen wollten, und mit dem Goethischen Faust den gleichen Inhalt und behandelt einen jener Urstoffe, die allen Tragödien des menschlichen Lebens zu Grunde liegen. In diesen Tönen spricht sich die absolute Vereinsamung des Geistes aus, der an Allem zweifelt, an Nichts glaubt, als an sich selbst. In den unheimlich umherirrenden Quintensextolen und der farblosen Harmonie, die, weder Dur noch Moll, uns aus dem Anfang entgegenklingen, öffnet sich der ganze Abgrund jener Trostlosigkeit, die in dem Himmel ein blaues Nichts und in der Welt ein unauflösliches Chaos erblickt. Wohin wir uns wenden: überall Kampf und Vernichtung. Das Thema hat gegen eine Masse feindlich andringender Gegensätze zu setreiten, denen es fast zu erliegen droht. Sein übermüthiger Schwung, in dem sich das stolze Bewußtsein der eignen Kraft aussprach, bricht sich zu leisen Klagetönen; doch bald rafft es sich empor und beginnt den Kampf von Neuem, dessen großartigstes Moment in jener Stelle liegt, wo der Baß den wiederkehrenden Quinten mit aller Macht die große Terz entgegenhält. Das ganze Orchester ist hier in zwei feindliche Welten gespalten, die Verderben drohend auf einander eindringen. Es ist, wie wenn zwei geharnischte Riesen Brust an Brust mit einander rängen. Die Harmonie springt, als ob sie Rettung suchte, nach B–dur hinüber, wird aber von einer unerbittlichen Nothwendigkeit nach dem finstern D–moll, der Tonart, in welcher der steinerne Gast geredet, in der das hohe Lied des Todes, Mozart's Requiem, erklang, der Tonart der missa solennis zurückgeschleudert. Endlich ist der Sieg gewonnen, aber was ist das für ein Sieg! Die Kontrabässe, deren Gewalt so lange das Ganze stützte, schwanken in unsteten Triolen auf und nieder. Die Kraft des übrigen Orchesters zerschellt in den fürchterlichsten Dissonanzen. Da kehrt endlich das Thema zurück, in ödem Unisono vorgetragen; der Glaube des Menschen an sich selbst hat sich aus der allgemeinen Vernichtung gerettet, aber wie ein Schiffbrüchiger, der, an eine unwirthbare Küste geworfen, den Untergang seiner theuersten Güter und Hoffnungen überlebte. Das Verständniß des ganzen Satzes ist in folgenden Worten aus Göthe's Faust zu suchen:
"Weh! weh! du hast sie zerstört, die schöne Welt, mit mächtiger Faust; sie stürzt, sie zerfällt! Ein Halbgott hat sie zerschlagen! Wir tragen die Trümmer ins Nichts hinüber und klagen über die verlorne Schöne. Mächtiger der Erdensöhne, prächtiger baue sie wieder, in deinem Busen baue sie auf! Neuen Lebenslauf beginne mit hellem Sinne, und neue Lieder tönen darauf!"
Dieselbe Trostlosigkeit, dieselbe Zerrissenheit, wie der vorangehende Satz, stellt das Scherzo dar, aber in der Form des Humors; der höchste Schmerz macht sich in tausend skurilen Sprüngen und Verzerrungen Luft, wie sie nur die Ironie dr Verzweiflung eingeben kann; bald wird eine Tonart mit äußerster Hartnäckigkeit festgehalten, bald stürzt das ganze Orchester mit athemloser Hast von einer Harmonie in die andere, selbst der Rhythmus wird in den allgemeinen Taumel gezogen. (Ich erinnere an die Stelle, wo das dreitaktige Medium plötzlich mit einem gewaltigen Ruck in das viertaktige umschlägt.) Nur ein Geist, wie der Beethovens, konnte alle diese streitenden Gegensätze zu einem symmetrischen Ganzen verbinden.
Im Presto, welches dem sonst gewöhnlichen Trio entspricht, tritt das sentimentale Element, die andere Seite und nothwendige Ergänzung des Humors, ein, das aber noch nicht hier, sondern erst im folgenden Satz zu seiner rechten Geltung kommt.
Das Adagio drückt einen Gedanken aus, der den Geist des Komponisten vielfach beschäftigte, der in seinen letzten Tondichtungen unter verschiedenen Formen wiederkehrt und ihn hier zur rührenden Idylle stimmt, einer Idylle, der sich indessen einzelne elegische Klänge einmischen. Beethoven suchte bei der Natur Zuflucht vor den ängstigenden Widersprüchen, die ihn aus der Nähe der Menschen hinwegtrieben. Dort ist Alles Frieden, Wahrheit, Harmonie, und in unsern verkünstelten Zuständen nur Kampf, Lüge, Verwirrung. Das Adagio der neunten Sinfonie gehört zu jenen Dank- und Opfergaben, die der unglückliche Meister seiner Freundin und Trösterin darbrachte, und der Inhalt dieser Töne kann nicht schöner wiedergegeben werden als mit Schillers Worten: "Wir sehen alsdann in der unvernünftigen Natur nur eine glücklichere Schwester, die in dem mütterlichen Hause zurückblieb, aus welchem wir im Uebermuth unserer Freiheit hinaus in die Ferne stürmten. Mit schmerzlichem Verlangen sehnen wir uns dahin zurück, sobald wir anfangen, die Drangsale der Kultur zu erfahren, und hören der Mutter rührende Stimme. So lange wir bloße Naturkinder waren, waren wir glücklich und vollkommen; wir sind frei geworden und haben beides verloren." –Die Stimmung, welche dieses Adagio charakterisirt, bedingt eine gewisse Ungebundenheit in der Behandlung, und wir finden deshalb, daß die Hand, die sonst gewohnt ist, alle Kräfte des Orchesters so streng zusammenzuhalten, hier jedem einzelnen Instrument eine selbständige Entfaltung gestattet.
Aber die Realität fordert ihr Recht. Wir sind längst aus der Idylle des natürlichen Daseins getreten, und die Rückkehr zu ihr ist nur ein Traum, den die Wirklichkeit mit roher Faust zerstört. Der letzte Satz beginnt mit einer grellen nur von den Blasinstrumenten im Fortissimo ausgehaltenen Dissonanz. Und nun kommen jene berühmten Recitative der Orchesterbässe, welche den Augenblick des Besinnens und Insichgehens bezeichnen und den Wendepunkt des Ganzen enthalten. Die Weisen der früheren Sätze werden flüchtig an uns vorübergeführt und verworfen, nach der letzten Erinnerung an das Adagio erklingt endlich ein Recitativ, das sich von dem früheren durch seine zuversichtlichere Haltung unterscheidet. Einem Auslang an das Thema: "Freunde, schöner Götterfunken", wo zugleich das lichte vertrauungsvolle D-dur eintritt, welches nun immermehr die Oberhand gewinnt, folgt wieder ein Recitativ, welches die vierundzwanzig Takte der Bässe einleitet, in denen sie nun zum ersten Male die ganze Melodie des Liedes vortragen. Der Seele des Künstlers ist hier die erste Ahnung von der höhern Erkenntniß, dem himmlischen Frieden, die er so lange vergeblich gesucht, aufgegangen, aber noch eine unbestimmte und formlose.
Indem sie danach ringt, sich zu gestalten, fallen immer mehr Instrumente in die Weise ein, bis sie zuletzt in der dritten Wiederholung vom ganzen Orchester jubelnd verkündet wird; – doch plötzlich tönt jene fürchterliche Dissonanz, die den letzten Satz einleitete, dazwischen. Die Nacht ist neidisch auf das junge Licht und droht, es in ihrem Schooße wieder zu begraben; – da erschallt zum ersten Male die menschliche Stimme. Bei den Worten: "O Freunde, nicht diese Töne!" schließt sich der Abgrund für immer und verschlingt die Dämonen, und in die Stätte, wo sie gehaust, ziehen Liebe, Freundschaft und Glauben ein. Der Grundton des Thema's: "Freude, schöner Götterfunken" ist von Anfang an ernst und feierlich, und der Charakter hat sich bei den Worten: "Seid umschlungen, Millionen," in denen nun mit voller Bestimmtheit der metaphysische oder religiöse Grundgedanke des Werkes sich ausspricht, zur heiligen Weihe des alten Kirchenstyls erhoben. In allem Folgenden verschwindet die Erde unter den Füßen des begeisterten Sängers, dessen Aue nur noch himmlische Visionen schaut. Noch einmal kehrt sein Blick zurück auf die irdische Welt; aber sie ist ihm verklärt durch den Widerschein des Jenseits.
Daß die neunte Sinfonie nicht ein Loblied auf die Geselligkeit ist, sondern ein Hymnus zu Ehren der Gottheit, daß sie die geistige Erlösungsgeschichte der Menschen darstellt, ergiebt sich sowohl aus dem Gesichtspunkt, der die Auswahl ganz bestimmter Strophen aus der Schillerschen Ode leitete, als auch aus dem ganzen Inhalt dieser Musik. Als Bestätigung kommt noch der äußerliche Umstand hinzu, daß die Lebensanschauung des Meisters in seinen letzten Jahren eine durchaus religiöse war und diese Sinfonie nur eine Nummer von der Missa solennis trennt. Aus der Idee, die dem Kunstwerk zu Grunde liegt, rechtfertigt sich auch die Art, in welcher die Instrumental- mit der Vokalmusik verbunden ist, und die in allen übrigen Fällen wie ein Verstoß gegen die ersten Regeln der Komposition gewesen wäre. Die Sprache der Instrumente reichte aus, um die Geheimnisse der Natur und selbst die dunklen Stimmungen und Gefühle des Herzens, die wechselhaft sind, wie der Zug der Wolken, zu verrathen. Aber die Gewißheit, daß der Mensch in der Welt die Gottheit wiedergefunden, konnte nur des Menschen Stimme verkünden. Die ersten drei Sätze, die rein instrumental sind, ringen nach dieser Erkenntniß, deren Ausdruck erst im vierten Satz dem Worte gelingt. Gerade dieser innere Zusammenhang läßt den Versuch, dem Grundgedanken der ganzen Tonschöpfung auch in jenen drei Sätzen nachzugeben, nicht als müßige Spielerei der Phantasie erscheinen, sondern stellt an jeden Hörer die Anforderung, auf seine Weise der Bedeutung des Werkes sich bewußt zu werden.

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